Risse: Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
Kurzmeinung: Diesen Roman habe ich mehr gehasst als geliebt.
Von den Kindheitsbewältigungen in den diesjährigen Romanen, die für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert sind, ist „Risse“ das brutalste Buch. Dennoch meine ich, dass eine unglückliche Kindheit zum Therapeuten gehört und nicht auf mein Lesepult. Jedenfalls dann nicht, wenn es kontextlich nicht eingebettet ist in nachträgliche Reflexionen, Systemkritik whatsover.
Zum Inhalt: Die Protagonistin wird in der DDR in den 70er Jahren von einer alkoholkranken Mutter aufs Gröbste mishandelt und gedemütigt; der gleichgültigen Vater, der eine Kneipe besitzt, und ebenfalls Alkholiker sein dürfte, ist nicht besser. Als das Kind wegläuft, bringt man es zurück zu den Eltern. Bei erneuten Ausbruchsversuchen, glaubt man ihm nicht, schließlich landet es im Heim, wo die Lebensbedingungen nicht viel besser sind. Zeitsprung. Das Mädchen ist Polizistin. Ende.
Der Kommentar:
Sicherlich ist „Risse“ ein erschütternder Bericht über eine gestohlene Kindheit. Homo homini lupus. Den Bruch am Ende verstehe ich jedoch nicht. Wie sind wir so plötzlich von A nach B gekommen? Von gerade eben noch misshandelter und hilfloser Kreatur, ein Spielball der Mächte Eltern, Heim, Erzieher, Staat zu einem Ausbildungsberuf und angesehenem Berufsbild?
Was bringt es, wenn ich darüber jetzt lesen muss? Weil ich mich für die Nominierten des Deutschen Buchpreises interessiere? Mein Mitgefühl ist Angelika Klüssendorf sicher, doch hätte es mich viel mehr interessiert, wie sie ihre Kindheit bewältigt hat und eine angesehene Schriftstellerin wurde. Nicht dass ich auch nur eine einzige Zeile von ihr vorher gekannt hätte. Sind wir es ihr schuldig, dass wir ihren Roman mögen? Ich mag ihn nicht.
Fazit: Sorry. Trotzdem. Not my cup of tea.
Kategorie: Teilbiografie. Autofiktional.
Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023
Verlag: Piper, 2023
"Die Scham über die Armut war meine eigentliche Kleidung.“
In den zehn Kurzgeschichten dieses Buches schaut der Leser in eine alptraumhafte Kindheit, die geprägt ist vom Alkoholismus der Eltern, von Gewalt und Sadismus, von Übergriffen, von Hunger und Mangelernährung, Diebstahl, Heimaufenthalten, Streunereien und einer großen Verlassenheit der Ich-Erzählerin. Einige der Geschichten sind fast abstrus, z. B. „Hölle oder Himmel“, die so beginnt:
"Es ging auf Ostern zu und mein Vater würde sich verändern. Verwandelt in einen anderen, hätte er nichts anderes im Sinn, als Fachbücher zu lesen, Stricke auf ihre Reißfestigkeit zu überprüfen, wie ein Apotheker würde er Tabletten auf eine kleine Waage häufen oder sich Blumensträuße mit stark duftenden Blüten neben sein Bett stellen."
Der Leser erkennt erst später, dass der Vater ein Fest der besonderen Art vorbereitet: seinen alljährlich aufs Neue stattfindenden Suizid-Versuch am Ostersonntag, den er akribisch vorbereitet und wie eine Zeremonie plant und durchführt, bis ihm sein Vorhaben in einem späteren Jahr auch gelingt. Der Schrecken, den der Leser empfindet, wird noch gesteigert durch die nüchterne und emotionslose Sprache, in der die Autorin dieses und die anderen Schlaglichter auf eine Kindheit erzählt.
Es ist eine Kindheit in großer Armut, in die man hineinschaut, aber es geht in allen Geschichten nicht um eine soziale Anklage, sondern eher um die erschreckende soziale und emotionale Kälte, in der das Kind aufwächst. Die Verwahrlosung des Kindes zeigt sich äußerlich (Schmutz, Ungepflegtheit, Geruch) und führt zur Isolation in der Schule. Sie zeigt sich aber auch innerlich, wenn das Kind lernt zu stehlen und zu lügen. Nur kurz wird die soziale Kälte aufgebrochen durch die Empathie einer jungen Praktikantin oder, sehr berührend, wenn von der großen Liebe des Kindes zu seiner kleinen Schwester die Rede ist. Die Sehnsucht nach der Schwester ist es, die das Mädchen mehrfach aus dem Heim ausbrechen lässt, um sie vor den sadistischen Übergriffen der Mutter zu schützen.
Die zehn Erzählungen werden durch kursiv gesetzte Zwischentexte zusammengehalten. Diese Texte kommentieren das Erzählte, führen es weiter aus oder aber korrigieren es in Richtung Wirklichkeit, sodass der Eindruck einer Autobiografie verstärkt wird.
Die Sprachkunst der Autorin ist unbestritten; ihre nüchterne emotionslose Sprache spiegelt die soziale Kälte wider, der das Kind ausgesetzt ist. Trotzdem blieb mir als Leser ein schaler Nachgeschmack zurück. Sinn und Zweck dieser Schlaglichter wirken wie ein therapeutisches Tagebuch, wie eine sehr persönliche Traumabewältigung, zu deren Zeuge der Leser gemacht wird. Eine Leserrolle, die mir persönlich nicht zusagt.